(über)lebensbuch #4 - fäden aus schnee und sein

Veröffentlicht am 22. November 2024 um 17:50

 

es ist november, und ich tue was ich kann. ich weine nicht, während die schatten in meinen augenwinkeln tanzen. ich weine nicht, weil jemand gestorben ist. ich weine nicht, während man mir bilder vom schnee in g-town schickt. ich weine nicht. 

das schaf sitzt beim frühstück in der tasche vom cardigan. man gibt mir die ammoniak ampulle nicht in die hand. die augen tränen vor schmerz. vielleicht zählt das als weinen? man gibt mir ein kühlpack und mandarinen. später wird jemand kommen und fragen, und ich werde nicht weinen sondern versuchen weiter zu machen. 

 

ich bin wie ein loch in einem strickpulli, eins, an dem sich die fäden aufribbeln, und je länger man wartet, in desto mehr fäden löst sich alles auf, zerfällt in tausend stränge - und ich kann doch gar nicht stricken. gestern sitze ich mit der pflege da, und sage das wieder und wieder: ich bin nichts. ich löse mich auf. ich kann doch nicht stricken. ich kann gar nicht stricken! 

sie nickt. irgendwann sagt sie: 

aber stricken kann man doch lernen!

es ist dieser satz, der wohl am meisten tröstet. 

 

(...)

 

ich bin niemand 

ich bin zu viel

ich löse mich auf

ich darf nicht sein

niemand wird mich je lieben

niemand wird meine wahrheit je lieben

 

(...)

 

die reinigungskraft steckt mir bonbons zu. "für dich", sagt er, und ich lache, und denke daran, wie die anderen mit ihm umgehen - und wie sehr ich ihn mag, so normal. "danke", sage ich, und weine nicht. 

 

(...)

 

»aber nur dreißig« - »wegen kreislauf, oder?« - »ja« 

 

(...)

 

es riecht nach waldspaziergang und angst. vor dem fenster steht jemand, der uns beobachtet. die tropfen umwirbeln mich sanft. das kühlpack wird warm. ich bleibe leer. 

 

(...)



»wenn blödheit quietschen würde bräuchtest du ne kanne öl« 

 

(...)

 

»es ist glas in den ampullen. die können sie nicht haben« - »ihr wollt mich am montag entlassen« - »ja, aber bis dahin ist's halt schwierig« 

 

(...)

 

der pfleger gibt mir eine hausführung. die visite erlaubt mir nämlich keinen ausgang alleine. ich bin erschöpft. die entlassung rückt immer näher. draußen bin ich gelöst, laufe barfuß über wiesen ohne schnee und vergesse wo ich bin. ein paar rasende herzschläge lang bin ich lebendig. dann geht es zurück zur schleuse, und nur meine kalten ohren erinnern an leichtigkeit

 

(...)

 

es schneit, es schneit, kommt alle aus dem haus // die welt, die welt, steht wie gepudert aus

 

und obwohl nichts wirklich liegen bleibt, fühle ich mich ein bisschen wie zuhause. genauso triggernd und genauso wunderschön. ich denke: wollmäuse. und starre nach oben, wo die flocken sich aus dem weiß lösen und grau scheinen um dann zu sein. und während mein pulli aus sein sich aufribbelt, bleiben immer noch schneeflocken im sonnenlicht

 

schreien. »ich will hier raus. ich will nachhause« schreit die die keine essstörung hat und: »verdammt, wollen sie fixiert werden?!« die pflege. 

 

(...)

 

»haben sie antidissoziationsskills?« - »das ist gerade mein schutz. die frage ist eher: wie halte ich diesen zustand über das wochenende?« - die therapeutin seufzt. der schneeniesel hat aufgehört. ich möchte stattdessen gerne weinen. es ist so kalt. fast habe ich angst dass meine tränen festfrieren könnten. am wegrand wachsen wildrosen. überall hagebutten - und dazwischen eine knospe. man sieht schon ihr rosa. »die wird nicht überleben«, sage ich, und denke: »aber ich vielleicht« 

(...)

ich werde psychotisch. ich bin mir ganz sicher. ich zerfalle. dissoziation? wahn? kann ich noch realität? wer bin ich wo höre ich auf und wo fang ich überhaupt an?! wieso ist das wasser nicht kalt wenn ich mich doch spüre, wo bin ich, was passiert. meine hüften, yoga, das geht doch, aber wo sind meine grenzen. 

 

WER

BIN

ICH

?

 

 

 

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