ostern - verlieren und gewinnen

Veröffentlicht am 22. April 2025 um 09:37

 

 

es gibt noch etwas zu erledigen / bleib am leben

die, die geweint hat, weint auch heute. dann setzt sie sich in den garten, in dem wir ostereier verstecken und suchen und finden. sie weint nicht mehr, sie hört den ostergottesdienst auf ihrem handy, und ich frage mich noch immer, ob ihr das gloria in den stunden des sonntags voller liebe genauso viel gibt wie mir, ob sie auch um vier aufgestanden wäre wenn sie gedurft hätte. ihre augen und die gesprächsfetzen mit der ärztin die ich mitbekomme - ja, die sagen, sie hätte alles für mein privileg gehen zu dürfen getan. 

auf station lässt es sich auch im gang frühstücken, eier verschenken und an das feuer vor der fremden kirche denken. liegen auf der bank im garten, die aprilsonne auf dem gesicht. ein mischwald, eine umarmung, und dann verlässt die osterkerze in einem korb die tür, innen klickt, außen klickt, die pflege kommt wieder - und ich stelle fest dass mein grund mit dem vater gegangen ist. vielleicht hat sie sich im körbchen versteckt und wir haben es deshalb nicht gesehen.

“der vater ist die erste große liebe einer tochter!”, erklärt pinkie. sie erklärt ohnehin viel, redet ohne unterlass, und ich beneide sie einen moment um ihre manie, weil das viel leichter scheint als auszuhalten, wie nah der tod ist, immer, in greifbarer nähe. 

der vater hat am ersten tag gefragt, ob ich jemals eine nahtoderfahrung hatte. er meinte das mit dem licht und den engeln, deswegen schüttele ich den kopf. ich war so oft nah am tod. aber ein weiter habe ich nie gesehen. vielleicht auch, weil ich keines wollte.

ich gehe zur pflege. vor dem stützpunkt redet pinkie über ihre verdauung. sie tut das laut genug dass ungefähr die ganze station das hören kann. als ich an die reihe komme, geht es nicht um fäkalien, sondern um mein leben. es ist immer mein tavor. sie legen mir nebel in die hand, der mich schon lange nicht mehr erreicht.

ich lehne mich in die kissen zurück. eine hand voll trauben und ein schokoei zum abendessen. dann lasse ich den nebelkopf immer leerer werden, höre menschen, vögel, das leben, und denke nur noch vorsichtig an den tod, als wäre er zerbrechlich.

irgendwann kommen kopfhörer, und ich kann durch das überwachungsfenster die welt draußen stumm beobachten, als hätte man den ton ausgestellt. es folgt tocotronic. 

bleib am leben / ich renn zu dir zurück / bleib am leben / zurück ins irre glück

die zimmernachbarin kommt, so wie sie immer kommt. sie bedeutet mir aufzutauchen aus der welt in der ich schwebe, und ich nehme die kopfhörer raus, trauere einen moment um meine ruhe. “doktor l. hat dienst, der ist gut”, sagt sie, “und ich habe pfleger f. gesagt dass du vielleicht nochmal reden willst”. ich seufze in meinem nebelkopf. “warum?”, frage ich leise. “weil ich heute nacht nicht neben dir sitzen will und trauern”, sagt sie, dann lacht sie, sieht das aber in meinen augen

“ich hab dich lieb anna. ganz doll” 

ich denke: ich mich vielleicht auch. vor allem mag ich aber das so gar nicht bayrische “doll” - und irgendwie hilft das echt.

bleib am leben / ich renn zu dir zurück / bleib am leben / minimal verrückt 

ich denke an einen podcast, der immer mit “bleibt sauber”, im bezug auf “clean”, endet. ich denke, dass ich nicht sauber bin.

dann lasse ich den nebelkopf wieder in die kissen sinken. denn ich bin zu genauso viel prozent suizidal wie müde - und das ist beides ziemlich doll..

 

bleib

am

leben

 

- tocotronic: bleib am leben

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.